Dieser Artikel ist Teil des Features „Das Berliner Schloss 2.0. Beton und Barock

Coincidentia Oppositorum

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Ich habe, das ist bekannt, zunächst mit Skepsis auf Franco Stellas Entwurf des Baues reagiert.

Geschichte und Gegenwart sind kommunizierende Röhren: so, wie sich die Gegenwart als ein spannungsreiches Produkt der Historie erweist, so wird das Bild der Geschichte von Prozessen mitgeprägt, die sich aus der Reflexion der jeweiligen Jetztzeit ergeben.

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu prognostizieren, dass mit dem Humboldt Forum eine entschiedene Reformulierung der Geschichte und im Besonderen der Geschichte Berlins vollzogen werden wird. Ich habe, das ist bekannt, zunächst mit Skepsis auf Franco Stellas Entwurf des Baues reagiert, weil mir allgemein die Reaktion auf das freie Spiel der Formkräfte, wie es die Postmoderne vorgetragen hatte, zu radikal war: zu viel Geometrie, zu viel kartesische Mathematik, zu viel Glätte und Härte auf der Oberfläche. Ich muss aus heutiger Sicht gestehen, dass ich mit dem allgemeinen Bild auch die Spezifik des Entwurfes von Stella verfehlt habe.

 

Mein Umschwung fand in dem Moment statt, in dem ich zu begreifen verstand, dass Stella über ein tiefes Verständnis für die Geschichtlichkeit nicht nur der Architekturordnungen, sondern auch und gerade des Berliner Schlosses sowie seiner architektonischen Einbettung verfügt. Sein Bauwerk wird keinesfalls ein Palast oder ein Schloss werden, sondern ein Stadtteil, der jedes seiner Portale nicht etwa als eine zu durchschreitende Grenze, sondern vielmehr als eine zu beiden Seiten in Plätze sich öffnende Architektur versteht.

Dasselbe gilt umso mehr für die Passage und die Blickachse, die sich durch den Schlüterhof von Süden her bis zur Fassade der Alten Nationalgalerie ergibt. Auch die Durchgänge haben eine transitorische Funktion, die sie weit bis zum Ende der Blickmöglichkeit über ihre eigentliche Bestimmung hinaus treiben. Architektur ist für Stella eine Ermöglichungsform, die mit dem Menschen, seinen Blicken, und seinen Bewegungen in Verbindung steht. Sie stellt das Gegenteil von jenem Gestus dar, das ihm bisweilen entgegengehalten worden ist: einer kalten Rationalität zu folgen.

Um ein aus der Mode gekommenes Wort zu verwenden, das für meinen Begriff auf den Denkrahmen zutrifft, in dem Stella seine Architektur entwickelt: er ist Dialektiker. Sein vor gut zehn Jahren im Stile eines Manifestes veröffentlichter Text: L’Architettura e la Costruzione zielt auf die aus der Geschichte abgeleitete Begründung einer Architektur, die als coincidentia oppositorum, Zusammenfall von Gegenpolen, zu begreifen ist. Stella erweist sich in diesem Text als ein Strukturalist, der eine Versöhnung zwischen zwei Prinzipien intendiert, die einerseits auf die Funktion des Tragens und diese allein ausgerichtet ist, also die Wand, und andererseits auf die Symbolisierung ihrer selbst in einem besonders sprechenden Architekturmotiv, dem Trilith, zielt. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen, aber ich vermute, dass ihm die schmale, aber ungeheuer einflussreiche Schrift von Guido von Kaschnitz-Weinberg eine Anregung gegeben hat: Die Mittelmeerischen Grundlagen der antiken Kunst. Die Beispiele entnehme ich dieser Schrift.

Die Grundlage liegt im Trilith als einer Doppelstütze, über die, wie in Stonehenge, ein Querbalken gelegt ist. Sie bedeutet die Freistellung von der Wand, so dass dieses Architekturelement zwar trägt, aber zunächst nichts als sich selbst. Es kann daher als autonomes Gebilde von der eigentlich tragenden Wand gelöst werden. Vor allem kann es auch die Form seiner Stütze verwandeln, so etwa zur Säule, wie im Poseidontempel von Paestum.

In dieser Erscheinung, als statisches, aufrecht ragendes Gebilde, entwickelt die Architektur eine Verbindung zur menschlichen Gestalt als sich selbst tragender, aufrechter Größe, wie etwa im Erechtheion. Hierin liegt, um ein großes Wort zu nutzen, die Humanität einer Architektur, welche nicht allein die Funktion der Stütze, sondern auch deren autonomes Dekorum als Symbolisierung ihrer selbst aufgreift. Die gesamte Architekturgeschichte nimmt Stella zufolge den Gang, dieses der menschlichen Proportionen zugängliche Element mit der reinen Funktion einer glatten, tragenden Wand zu verbinden.

Hierin liegt jenes Zusammenspiel der Gegensätze, wie es in der Antike im Tabularium von Rom, dem heutigen Senatorenpalast, im unteren Stockwerk eingesetzt wurde. Der in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts begonnene, von Andrea Palladio geschaffene Justizpalast von Vicenza hat dieses Prinzip über beide Stockwerke gezogen. Die Durchsäulung der Wandöffnungen gehört zum Markenzeichen des Architekten, dem sich Stella in besonderer Weise verpflichtet fühlt.

Es muss für Stella ein Faszinosum gewesen sein, zu erkennen, wie Andreas Schlüter in seiner Architektur im Berliner Schloss mit dieser Zusammenführung von Wand- und Proportionssymbol umgegangen ist.

Bis heute begeistert, wie Schlüter, auf den Senatorenpalast Michelangelos auf dem Kapitol von Rom anspielend, im unteren Stock des Ostflügels die Säulen auf eine in funktionaler Sicht widersinnige Weise in die Wand eingestellt hat: Eine Reminiszenz an das Vestibül der Biblioteca Laurenziana in Florenz, das bis heute als eine Inkunabel der Postmoderne gilt, und wie er die kolossalen Säulen vor den Mitteltrakt gesetzt hat, um ihnen keine weitere Funktion zuzubilligen als allein diejenige, den Reigen von überlebensgroßen Skulpturen zu tragen. Hier wird mit der Architektur gespielt, um diese zum skulpturalen Gleichnis ihrer selbst zu machen.

Das zweite Element, das mich in Bezug auf Stellas Architektur von Skepsis in unverhohlene Anerkennung, wenn nicht Begeisterung hat umschlagen lassen, ist seine unromantische Koinzidenz der Rekonstruktion von Schlüters Formen mit der eigenen proportional gebundenen Rationalität.

Das entscheidende Moment liegt im Übergang von seinem Ostflügel zur rekonstruierten Architektur Schlüters. An keiner Stelle hat Stella den Übergang verschliffen und dadurch zu einer „küssenden Architektur“ (Sylvia Lavin) gemacht; vielmehr hat er in genau jenem Grat, an dem beide Stilformen aneinander stoßen, einen Rückschritt eingesetzt, der bei dem sich wandelnden Licht wechselnd dunkler oder heller aufscheint, um als sprechende Architektur zu betonen: wir sind autonom. Man glaubt eine Visualisierung von Niklas Luhmanns Methode vor sich zu haben, eine scharfe Linie der Unterscheidung zu ziehen, um die hierbei entstehenden diversen Felder umso stärker aufeinander beziehen zu können.

Wie diese soziologische Systemtheorie in sich zutiefst dialektisch angelegt ist, so ist es auch diese Architektur, die eine Verbindung sucht, nachdem sie eine Absetzbewegung vollzogen hat. Im Schlüterhof ist dies dadurch geschehen, dass Stella mit der Westwand eine erste Intervention in den radikal historischen Hofraum darbietet, welche die Gesimshöhen mitnimmt und daher einen Gürtel der Verbindung einzieht.

In der zum Eosanderhof hin übergehenden Passage sind die beiden Ost- und Westfassaden durch Stellas Stil bestimmt, sodass sich hier die historischen und die aktuellen Seiten nun in gleicher Zahl gegenüberstehen. In dieser Passage hat Stella seine Verbindung von Gegensätzen dadurch ausgespielt, dass er im Sinne von Schlüters Kolossalsäulen an die langen Seitenwände einen ganzen Wald von Säulen stellt, der das Prinzip des Triliths in symbolischer Form aufführt. Hierin liegt keine Willkür, sondern bewusstes Prinzip einer Zurückweisung rein funktionaler Rationalität, die ohne Beziehung zur körperschematischen Rezeption des Menschen bleibt.

Im Eosanderhof wird schließlich die zum Bogen veränderte trilitische Symbolfunktion der Architektur zum Theater ihrer selbst. Hier ist gegenüber dem Schlüterhof das Verhältnis zwischen Geschichte und Moderne umgekehrt: Den drei von Stella geprägten Seitenwänden und Galerien steht die Rekonstruktion des Eosanderportals gegenüber, das seinerseits mit seinem riesigen Triumphbogen, der an den Konstantins- und den Septimus-Severusbogen vom Forum Romanum in Rom appelliert, wie ein Theaterakteur auf die Bühne gestellt ist.

Mauern und Trilithen, Stützfunktion und humanisierendes Dekor, Portal und Platzöffnung, Blicklenkung und Blickerweiterung, Fixierung des Bauelementes und Überführung in sein Gegenteil: dies sind jene dialektischen Prinzipien, die Franco Stella auf höchst eigenwillige Weise im Umkreis seiner Kollegen in Venedig, allen voran Aldo Rossi und der unvergessene Manfredo Tafuri, den ich noch persönlich habe kennenlernen können, entwickelt hat. Es ist eine Lust, die Realisierung miterleben zu können. Mit dem Humboldt Forum, und dies ist das vielleicht größte Geschenk an Berlin und an die Bundesrepublik, wird ein zutiefst Mittelmeerisches Anliegen, wie es Adolf Loos mit seinem Spruch, dass jeder Architekt über ein unabdingbares Lateinwissen verfügen müsse, in Berlin erneut präsent, nachdem Andreas Schlüter dem preußischen König ein Gebäude geboten hatte, dass in keinem Detail seiner Form von der mitteleuropäischen Tradition zehrt, sondern als Gesamtheit eine Übertragung von römischen Formen nach Brandenburg darstellte.

Franco Stellas Humboldt Forum ist der Triumph einer Italianità, die das Stadtgefüge vom ersten Tag an, an dem das fertige Gebäude geöffnet sein wird, verwandeln wird: nicht nur seiner Form, sondern auch seinem gedanklichen Anspruch nach. Indem das Schloss zu einem Gefüge italienischer piazze werden kann, wird es nicht nur eine Blick-, Bewegungs- und Formschule sein, sondern auch eine Übung im Denken. Darin transzendiert es unsere Jetztzeit, die zunehmend lineare Perspektiven an die Stelle von komplexen, Widersprüche in Harmonie bringende Verfahren setzt.

Autor*in
Foto von Horst Bredekamp
Horst Bredekamp

Horst Bredekamp ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der Gründungsintendanz des Humboldt Forums.